Der Wiener Kaiserhof war immer schon das Zentrum der Musik im ganzen Habsburgerreich gewesen. Die kaiserliche Hofmusikkapelle war berühmt, doch die Musiker, die zur Zeit Leopold I und Karl VI in ihr wirkten, Fux, Wagenseil, Hoffmann, Monn u.v.a., bezogen ihre Inspirationen aus ganz Europa, besonders von den Meistern der sogenannten Mannheimer Schule. Sie sind heute weitgehend vergessen. Sehr zu Unrecht, denn ihr Schaffen spiegelt einen neuen Zeitgeist und bereitete den Weg für die großen Klassiker Haydn, Mozart und Beethoven.
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Konzert und hören eine Sinfonie oder Sonate von Georg Christoph Wagenseil, oder einem anderen der jüngeren Komponisten des frühen achtzehnten Jahrhunderts, und am Ende des letzten Satzes schreit jemand wütend in den Saal hinein: „Sonate, que me veux-tu?“, zu Deutsch (zugegeben etwas frei übersetzt): „Sonate, was zum Kuckuck soll der Schmarr’n?!“ – so geschehen in Paris während eines Konzerts.
Der empörte Rufer war Bernard le Bovier de Fontenelle, ein berühmter Schriftsteller und Philosoph der Aufklärung. Er konnte mit dieser neuen Musik nichts anfangen! – Für uns, die wir rückblickend auf diese Zeit schauen, ist das kaum nachvollziehbar! Sie kommt uns leicht und selbstverständlich vor! Doch “Jede Epoche “ – wie Harnoncourt sagt – “ist nur aus der vorangegangenen wirklich zu verstehen”. (Vgl. Harnoncourt, 2016, https://www.barockfestival.at/jahr/2017?page=1, zuletzt abgerufen am: 31. März 2023)
Doch Fontenelle war nicht allein mit seiner Meinung!
Zu Beginn des 18. Jh. war die traditionelle Vorstellung davon, was und wie Musik sein soll, dass jedes Musikstück einen „Charakter“ (= etwas Charakteristisches) haben muss. Also eine bestimmte Emotion, Stimmung, „Affekt“. Der Komponist muss wissen,
„[…] ob die Sprache, die er führen will, die Sprache eines Stolzen oder eines Demüthigen, eines Beherzten, oder eines Furchtsamen, eines Bittenden, oder eines Gebietenden, eines Zärtlichen, oder einen Zornigen sei“, und nur „wenn er das selbst empfindet und auch darstellen kann, kann er im Zuhörer dieselben Gefühle hervorrufen!“
De Ruiter, Jacob: Der Charakterbrgriff in der Musik. Erschienen in: Archiv für Musikwissenschaften Bd.XXIX D.35, 1989, S. 29
Kirchenmusik z.B. hat einen bestimmten Zweck: die Verherrlichung Gottes und das Wecken erhebender, frommer Gefühle bei den Gläubigen. In Opern wird die Musik durch das gesungene Wort verständlich, bringt die Gefühle der handelnden Personen zum Ausdruck und löst so ähnliche Emotionen bei den Zuhörern aus.
Tänze haben einen bestimmten „Charakter“: man erkennt sofort, ob es ein Walzer, Tango oder Quickstepp ist – zu jener Zeit: ein Menuett, eine Allemande, Courante, Sarabande oder Gigue,
„Die Erfindung für Concerte, […] Sinfonien, […] Sonaten und dgl., die keinen bestimmten Endzweck haben, ist […] gänzlich dem Zufall überlassen“. (Vgl. De Ruiter, Jacob, 1989: 35)
Sie wurden als „zweckloses Tongeräusch“ und „toter Schall“ empfunden, als „ein das Herz nicht beschäftigendes Geschwätz“! (Behler, Ernst, Hörisch, Jochen, Die Aktualität der Frühromantik, in: Arbitrum, Band 9, Heft 2, 1987: zitiert von De Ruiter, Jakob, 1989: 35)
“Gehaltvolle Instrumentalmusik sollte also einen bestimmten Charakter oder bestimmten Gegenstand haben,- wie z.B. Vivaldis „Jahreszeiten“”. (de Blainville, Charles-Henri, Histoire générale, critique et philosophie de la musique, 1767: 311, zitiert von De Ruiter, Jakob, 1989: 37)
UND: ebenso wichtig – nur einen Charakter; „Nichts ist Sprung in der Natur!“ (Vgl. Leibniz, Gottfried Wilhelm, 1765: 534f)
(Die Entdeckung von Mutationen in der Pflanzen – und Tierwelt bleibt einem späteren Jahrhundert überlassen!)
Das war die traditionelle Vorstellung. Nun hatte sich aber inzwischen die Welt verändert! Die Musik eines J. S. Bach oder Händel wurde zunehmend als zu pompös, zu ernst und kompliziert empfunden – obwohl sie ja noch lebten!
Ganz entscheidend für die Veränderungen in dieser Zeit war natürlich die gesellschaftliche Entwicklung: das Bürgertum war im Aufwind! Bisher waren Konzertveranstaltungen ein Privileg des Adels gewesen. Bürger und Bauern hörten Musik fast ausschließlich in der Kirche und bei Dorffesten, wenn zum Tanz aufgespielt wurde. Manche Adeligen hatten zwar bei manchen Anlässen ihre Tore geöffnet: bei den Esterhazys in ihrem Sommerschloss Fertöd, und auch bei Friedrich II durften alle Bürger gratis Opernaufführungen besuchen; Händel veranstaltete die ersten Abonnemenkonzerte in London, und Bach musizierte mit seinen Studenten im Café Zimmermann, aber nun wollten die Bürger ihren Anteil am Musikleben! Die Folge davon: man sehnte sich nach einer leichter verständlichen Musik, einer gefälligeren, die näher bei der Volksmusik war. Man wollte Melodien hören. Die Melodie galt nun als die „Seele der Musik“. Man wünschte mehr Leichtigkeit, Heiterkeit – das „Licht der Aufklärung“ sandte seine ersten Strahlen aus!
Heiterkeit, doch keineswegs Leichtigkeit, was die Virtuosität betrifft, kennzeichnet die folgende Sonate von Nicola Porpora ( 1686 – 1668)! Geboren in Neapel bereiste er als Kapellmeister und Gesangslehrer ganz Europa, brachte berühmte Schüler hervor, wie den gefeierten Kastraten Farinelli. In London konkurrierte er als Opernkomponist mit Händel und ließ sich, nachdem beide Londoner Opernhäuser pleite gegangen waren, in Wien nieder. Der junge Joseph Haydn trat als Kammerdiener in seine Dienste, nachdem er die Sängerknaben nach seinem Stimmbruch verlassen musste. Er erhielt von Porpora Kompositionsunterricht, freie Kost und Logis und begleitete des Meisters Gesangschüler. Da die erhofften Kompositionsaufträge für Opern ausblieben, komponierte Porpora Kammermusik und Violinsonaten. Eine davon können Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, hier hören:
Nicola Porpora: Sonate für Violine und Basso Continuo (1686 – 68)
Diese gesellschaftliche Entwicklung hatte großen Einfluss auf das Musikleben: mehr Publikum brauchte größere Säle. Zunächst öffneten reichere Bürger ihre Häuser, in Hotels und Kaffeehäusern fanden Konzerte statt, in den diversen Theatern.
Größere Säle brauchten lautere Instrumente, was wieder die Instrumentenbauer auf den Plan rief – so wurden die ersten Hammerklaviere gebaut, Violinen wurden umgebaut, Blasinstrumente erhielten eine neue Technik.
Das absolute Zentrum dieser Neuen Musik war Mannheim.
Der Kurfürst Karl Theodor von der Pfalz war ein ausgesprochener Musiknarr. Er holte die berühmtesten Musiker an seinen Hof, darunter den böhmischen Geiger Johann Stamitz, der das Orchester der Fürsten leitete. Ein Zeitgenosse schrieb darüber:
„Kein Orchester der Welt hat es je in der Ausführung dem Mannheimer zuvor getan. Sein Forte ist ein Donner, sein Crescendo ein Katarakt, sein Diminuendo ein in die Ferne hin plätschernder Kristallfluss, sein Piano ein Frühlingshauch“.
Schubart, Daniel: „Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst“ in: Högler, Fritz: Geschichte der Musik, 1951, S.358
Die Sommer verbrachte der Fürst im nahen Schwetzingen und nahm sein ganzes Gefolge, etwa 1500 Personen, mit, die alle auf Kosten des Kurfürsten dort wohnten. Sie alle und auch alle Fremden hatten freien Zutritt zu sämtlichen Konzerten, Opern u. Theateraufführungen! Charles Burney, ein englischer Reisender schreibt darüber:
„Einem jeden, der des Sommers durch die Gassen von Schwetzingen geht, muss es gänzlich von einer Kolonie von Musikanten bewohnt zu sein scheinen, die ihre Profession beständig ausüben; da in einem Haus hört er einen schönen Gesang, dort in einem andern eine Flöte; hier einen vortrefflichen Hoboisten, dort einen Bassoon, eine Clarinet, ein Violoncell, oder ein Concert von allerley Instrumenten zugleich.“
Burney, Charles: Tagebuch einer musikalischen Reise durch Frankreich und Italien, 1771, S.228
Auch der junge Mozart war hellauf begeistert von der Qualität des Mannheimer Orchesters!
In der 2. Hälfte des Jahrhunderts regte sich allmählich Kritik an den „Mannheimer Manieren“: allzu viele Verzierungen, die Mannheimer „Vögelchen“ „Seufzer“, „Walzen“ würden die Kantilene verdecken! Die Musik mit Haydn, Mozart und Beethoven wurde wieder ernster und gehaltvoller. Doch der Mannheimer Stil hatte sich schnell in ganz Europa ausgebreitet!
Johann Christoph Mann (1726 – 1782), der jüngere Bruder des berühmteren Matthias Georg Mann (nach anderer Schreibweise “Monn”). Er wirkte als Musiklehrer bei den Kinskis in Prag und starb verarmt in Wien.
Die Zeit Kaiser Karl VI
Als Karl 1711 an die Macht kam, war er 26 Jahre alt. Das Land hatte sich vom zweiten Türkenkrieg zwar weitgehend erholt, dennoch hatte der junge Kaiser mit einer Menge anderer Probleme zu kämpfen: der Spanische Erbfolgekrieg, an dem fast ganz Europa beteiligt war, war immer noch im Gange und wurde erst 1714 mit dem Frieden von Rastatt und Baden beendet. (Die historischen Details bitte ich den geneigten Leser, den einschlägigen Geschichtsbüchern zu entnehmen, da es den Rahmen meiner bescheidenen Zeitskizze, die ja vor allem der Musik gewidmet sein soll, sprengen würde!)
Zur gleichen Zeit wütete die Pest immer noch vor allem im Norden und Osten Europas, doch kam es auch in Wien 1713 noch einmal zu einem größeren Ausbruch, der tausende Tote forderte. Karl gelobte eine Kirche zu bauen, sobald der “Schwarze Tod“ besiegt wäre: 1716 begann Fischer von Erlach mit dem Bau der Karlskirche, die dem kaiserlichen Namenspatron Karl Borromäus geweiht ist und erst 1737 durch Fischer von Erlach dem Jüngeren fertig gestellt wurde.
Trotz dieser enormen Schwierigkeiten fand der Kaiser – wie auch sein Vater Leopold I – genügend Zeit zum Musizieren! Er spielte ausgezeichnet Cembalo, was seinen Hofkapellmeister Johann Joseph Fux zu einem Kompliment veranlasste:
„Schade Majestät, dass Ihr nicht Cembalist geworden seid!“ – Darauf der Kaiser: “Ach, lieber Fux, mir geht’s auch so ganz gut!“ (Irmen, Hans-Josef, 2007:10)
Johann Joseph Fux entstammte einer einfachen steirischen Bauernfamilie. (Die Steirer sind heute noch zurecht stolz auf ihn!) Eine beachtliche Karriere! Haydn, Clementi, Mozart, Bruckner und Mahler studierten seine Kompositionslehre „Gradus ad Parnassum“!
Wien, die Residenz des Kaisers, ist im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer veritablen Großstadt geworden. Wer Rang und Namen hatte wollte in der Nähe des Kaisers wohnen! Die berühmtesten Baumeister, wie Fischer von Erlach und Lukas von Hildebrandt wurden engagiert um neue Palais zu bauen oder alte umzubauen. So entstanden die Palais Schwarzenberg, Auersperg, Harrach, das Stadtpalais des Prinzen Eugen, wie auch seine Sommerresidenz, das Schloss Belvedere – und, nicht zu vergessen, Schloss Schönbrunn!
Wien war zu einer lebenslustigen, fröhlichen Stadt geworden. Man liebte die Musik und Tanzfestlichkeiten aller Art, auch Maskenbälle erfreuten sich größter Beliebtheit. Sämtliche Prinzessinnen und Prinzen erhielten Musik – und Tanzunterricht und spielten Theater. Selbst Maria Theresia nahm Gesangstunden und liebte die Oper!
In der Faschingszeit wurden „Bauernhochzeiten“ in Wirtshäusern veranstaltet, bei denen sich Adelige als Bauern verkleideten, und das Kaiserpaar in der Rolle der Wirtsleute die Gäste bedienten!
Die Sehnsucht nach eingängigeren Melodien und heiterer Musik bewirkte ein Aufblühen und eine größere Wertschätzung der Volksmusik. Viele Volkslieder fanden Eingang in die Musik Haydns und Mozarts. Ein Beispiel:
Das „Sauschneider-Lied“:
Ihrer neune müassen's sein, wann’s an Saubärn woll'n schneid’n: zwoa vorn und zwo hint’n, zwoa heb’n und zwoa binden, und oana schneid’t drein, wann’s an Saubär’n woll’n schneid’n.
…und im Verlauf des Scherzliedes werden es immer weniger, bis einer dazu verurteilt ist, alles allein zu machen!
Und nun staunen Sie, liebe Leser und Leserinnen, was Joseph Haydn aus diesem Scherzlied gemacht hat:
Joseph Haydn: Capriccio über „9 Sauschneider müssen’s sein“
Nun, liebe Leserinnen und Leser, gönnen Sie sich zum Abschluss noch ein bisschen “leeres Geschwätz, das das Herz nicht berührt” von einem Schüler Wagenseils: Leopold Hofmann war ein äußerst angesehener Komponist und unterrichtete die Kinder am Kaiserhof im Violinspiel, Cembalo und dem erst seit kurzem in Mode gekommenen Hammerklavier. Ich bin sicher, Sie werden, wie ich, überrascht sein von der Schönheit und dem Einfallsreichtum seiner Musik!
Leopold Hofmann (1738 – 1793)
Literaturverzeichnis
Burney, Charles, Tagebuch einer musikalischen Reise durch Frankreich und Italien, London, 1771
Harnoncourt, Nicolaus, 2016, https://www.barockfestival.at/jahr/2017?page=1, zuletzt abgerufen am: 31. März 2023
Irmen, Hans-Josef: Josef Haydn: Leben und Werk, Köln/Weimar, 2007
Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux Essais sur Entendement – Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Band II, Buch IV, Amsterdam/Leipzig, 1765, neue Auflage Frankfurt am Main, 1961
De Ruiter, Jacob: Der Charakterbrgriff in der Musik. Studien zur deutschen Ästetik der Instrumentalmusik 1740-1850, in: Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaften Bd.XXIX D.35, Wiesbaden, 1989
Schubart, Daniel: „Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst“ in: Högler, Fritz: Geschichte der Musik, Wien, 1951