Kaiser, König, Edelmann,
Bürger, Bauer, Bettelmann,
Schuster, Schneider, Leinenweber,
Kaufmann, Doktor, Totengräber.
Wer erinnert sich nicht an diesen Auszählreim aus seiner Kinderzeit! Der „Totengräber“ musste „raus“ und durfte nicht mehr mitspielen. Im Mittelalter galt er als „ehrlos“, musste raus aus der Gemeinschaft und durfte nur abgeschieden von den ehrbaren Bürgern am Rande der Gesellschaft leben und wohnen. Raus aus dem Spiel – raus aus dem Leben! Der Auszählreim beschreibt nicht nur die Hierarchie der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung, sondern findet sich auch mit wenigen Abweichungen unter den Bildern der zahlreichen Totentänze des späten Mittelalters.
Die Beschäftigung mit diesem Thema ist so faszinierend, und die Fülle an gefundenem Material so überwältigend, dass es mir sehr schwer fallen wird, es in eine „handliche“ Form zu bringen! Doch denke ich, dass es den Versuch wert ist, und dass, wer immer die Geduld aufbringt diesen Text zu lesen, ebenso fasziniert sein wird wie ich.
Malerei, Dichtung, Musik, Drama – in allen Kunstformen findet sich die Vorstellung des Lebens als Tanz in den Tod. Der Tod als Tänzer, der jeden, vom ersten bis zum letzten, zum Tanz verführt – Widerstand vergeblich! Er ist Tänzer und Musikant:
Flötenspieler und Fiedler, Trommler und Trompeter, er spielt Dudelsack und Laute, Psalterium und Harfe. Er spielt mit der Sanduhr und siegt im Würfelspiel, mit Sichel oder Sense mäht er alles Lebende nieder, oder zielt mit seinem Pfeil auf alles Lebendige.
Doch warum tanzt der Tod?
Das Schauerliche daran: Im Tanz, dem Ausdruck überschwänglicher Lebensfreude vernichtet er das Leben. Dieser Widerspruch macht wohl das Grauen und das Groteske aus.
Der Basler Totentanz
Eine der ältesten Darstellungen sind die wunderbaren Fresken auf der Mauerinnenseite des Friedhofs des Dominikanerklosters in Basel. Sie sind um 1440 entstanden, etliche Male restauriert und 1805 leider mit dem Abriss der Mauer zerstört worden. Zum Glück sind einige Fragmente erhalten geblieben und schon früh (1616) abgezeichnet und auf Kupferplatten übertragen worden. In Buchform verbreitete sich der “Basler Totentanz” in ganz Europa als Anregung zur Meditation über die eigene Vergänglichkeit und inspirierte viele Maler zu ähnlichen Abbildungen.
Im ersten der 43 Bilder spricht ein Prediger von der Kanzel herunter zu einer kleinen Gruppe von Menschen, unter denen sich der Papst, ein Kardinal und ein Bischof befinden. Im zweiten Bild hüpfen zwei halbverweste Todesgestalten aus einem Beinhaus heraus und spielen auf Tamburin und Trompete zum Tanz auf. Dann werden der Papst, der Kaiser und die Kaiserin, der König und die Königin – kurz die gesamte geistliche und weltliche Obrigkeit von jeweils einer Todesgestalt zum Tanz aufgefordert, gefolgt von allen Vertretern der Gesellschaft bis hinunter zu den Ärmsten: den Juden, dem Koch (!) und dem Bauer. Alle tanzen auf das Beinhaus zu. Bevor sich der Maler selbst mit Frau und Kind einreiht, zeigt eine Szene die Ursache der zum Tode verurteilten Menschheit: den Sündenfall im Paradies. Im allerletzten Bild sieht man das Dominikanerkloster von Basel.
Vgl. Egger, Franz: Basler Totentanz, 2009, S. 28-29
Wie oben erwähnt ist der Basler Totentanz nicht im Original erhalten, sondern öfter restauriert worden. Er teilt somit das Schicksal des etwas früher entstandenen Totentanz-Freskos unter den Arkaden des Cimetière des Innocents in Paris, das uns in Holzschnitten in einer späteren Buchausgabe überliefert ist.
1805 wurde die Mauer des Dominikanerfriedhofs in Basel endgültig abgerissen, und das Totentanz-Fresko für immer zerstört. Johann Rudolf Feyerabend fertigte ein Jahr später eine Aquarellkopie nach den Kupferstichen von Matthäus Merian (1616) an – die Fassung, die oben abgebildet ist.
Zwischen dem frühen 15. und etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts finden sich allein im deutschsprachigen Raum mehr als dreißig Totentanzdarstellungen in Friedhofskapellen und Friedhofsmauern, Burgkapellen, Klöstern und Beinhäusern, bzw. Karnern – Tafelmalereien, Gobelins und Buchausgaben nicht mitgezählt!
Hier folgt eine kleine Auswahl der eindrucksvollsten:
Der Totentanz in der Musik
In all den ausgezeichneten und ausführlichen wissenschaftlichen Werken über Totentänze fand ich keinen Hinweis auf Musik! Ein Beethoven zugeschriebenen Ausspruch: “Beschriebene Musik ist wie ein erzähltes Mittagessen“ mag wohl der Grund hiefür sein! (Grillparzer, Franz (1791 – 1872), Wiener Hofkonzipist und Burgtheaterdichter, Quelle: https://www.aphorismen.de/zitat/124890, zuletzt abgerufen am: 06.08.2023) Dabei haben nicht nur große Komponisten, wie Franck Martin, Arthur Honegger und Camille Saint-Saens “Totentänze” komponiert, sondern auch zahlreiche Pop-Gruppen bearbeiten immer wieder dieses Thema!
Arthur Honegger (1892 Le Havre – 1955 Paris): La Danse des Morts
Oratorium für Sprecher, Bariton, Sopran, Alt, gemischten Chor, Orchester, Klavier und Orgel
Text von Paul Claudel (1868-1955 Paris)
UA 1940 Basel
Als Paul Claudel 1938 im Museum von Basel den “Basler Totentanz“ und den Holzschnittzyklus von Hans Holbein sah, war er so beeindruckt, dass er Honegger zu der Komposition eines Totentanzes anregte. Claudel, Diplomat und Dichter, war ein glühender Katholik. Seine Dichtung ist eine Collage aus Bibelstellen, speziell aus den Büchern Ezechiel, Hiob und Jesaja, und aus eigenen Gedanken, wie auch aus Zitaten aus den Psalmen und dem Neuen Testament.
Nach Claudels Auffassung vollzieht sich im Tod ein neuer Schöpfungsakt Gottes: Tod und Auferstehung sind eins!
Zu Beginn des Werkes ertönt ein gewaltiger Donnerschlag, nach dem wir zu einem endlos scheinenden Feld geführt werden, das übersät ist mit menschlichen Gebeinen. Von der Stimme Gottes werden sie wieder zum Leben erweckt und zum Tanz aufgefordert.
So spricht Gott zu den Gebeinen:
Siehe, ich bringe Lebenodem in Euch,
Damit Ihr weder lebendig werdet.
(Ezechiel 37/5)
Ein umgekehrter Totentanz also! Der Sprecher ist der Prophet und zugleich Gottes Stimme, der Chor die Stimme der Menschheit. Ein kleiner Chor wiederholt mehrmals die Worte:
Denke doch, Mensch, dass du vom Geist bist,
[…] und die Liebe mehr als der Tod!
Und ganz am Ende: Denk daran, Mensch, du bist ein Fels.
[…] Und auf diesem Fels bauen will ich meine Kirche.
Claudel, Paul, Honegger, Arthur: La Danse des Morts, 1937. Übersetzer Hans Reinhart
Claudels theologische Gedanken sind nicht immer leicht nachzuvollziehen. Er hat die Vision einer umfassenden Versöhnung des im Alten Testament gespaltenen Volkes der Juden und auch der Juden mit dem Christentum. Seine Bilder sind von großer Strahlkraft und Honeggers Musik von überwältigender Intensität. Das Werk war als szenisches Oratorium konzipiert und wurde bei der Uraufführung auch so verwirklicht.
Die Aufführung war ein grandioser Erfolg!
Liebe Leserinnen, liebe Leser, wir können Ihnen hier nur eine Aufnahme auf YouTube bieten. Das Werk wird selten aufgeführt, und Sie werden es als „Neue Musik“ empfinden, obwohl es mittlerweile über 80 Jahre alt ist. Lassen Sie sich bitte nicht abschrecken! Die Abgründe des Todes lassen sich weder in der Malerei noch in der Musik „harmonisch“ darstellen. Zumal, wenn man das Jahr der Uraufführung bedenkt: der zweite Weltkrieg hatte bereits begonnen!
Fast zur selben Zeit entstand Frank Martins „Totentanz zu Basel im Jahre 1943“, eine Suite von 23 Tänzen und musikalischen Szenen für 12 Pantomimen und einen Tänzer, der den Tod verkörpert. Das Lied aus dem dreißigjährigen Krieg „Der grimmig Tod mit seinem Pfeil“ zieht sich als fragmentarisches Zitat durch das gesamte Werk, das leider nie aufgeführt wurde, aber doch ungekürzt als CD erschienen ist.
Hugo Distler (geb. 1908 in Nürnberg), der begnadete evangelische Kirchenmusiker, komponierte im Jahre 1934 ein beeindruckendes Chorwerk „Totentanz“.
Inspiriert vom “Lübecker Totentanz” treten der Reihe nach der Kaiser, Bischof, Edelmann, Kaufmann, Landsknecht u.s.w., bis zum kleinen Kind zum Tanze an. Ihre Dialoge mit dem Tod folgen den Texten des Lübecker Totentanzes im Wechsel mit Sprüchen von Angelus Silesius aus dem “Cherubinischen Wandersmann”.
Der Tod:
Zum Tanz, zum Tanze reiht euch ein:
Kaiser, Bischof, Bürger, Bauer,
Arm und reuch und groß und klein,
Heran zu mir! Hilft keine Trauer.
Wohl dem, der rechter Zeit bedacht.
Viel gute Werk vo sich zu bringen,
Der seiner Sind sich losgemacht – Heut heißt´s nach meiner Pfeife springen!
Distler, Hugo: Der Totentanz, 1934, Quelle: https://www.totentanz-online.de/medien/musik/hugodistler.php, zuletzt abgerufen am: 08.09.2023
Die Motette endet mit Silesius:
Die Seele, weil sie ist geborn zur Ewigkeit,
Hat keine Wahre Ruh in Dingen dieser Zeit.
Drum ist´s verwunderlich, dass du die Welt so liebst.
Und aufs Vergängliche dich allzusehr begibst.
Distler, Hugo: Der Totentanz, 1934, Quelle: https://www.totentanz-online.de/medien/musik/hugodistler.php, zuletzt abgerufen am: 08.09.2023
Distlers Kompositionen galten in der Nazizeit als „entartete Musik“. 1942 nahm er sich das Leben.
Der nächtliche Tanz der Toten
In vielen Ländern der Welt erzählt man sich, dass die Toten zu bestimmten Zeiten wie zu Allerseelen oder den Raunächten an die Orte, wo sie gelebt haben zurückkehren und Schaden anrichten, wenn man sie nicht mit Opfergaben gütig stimmt. (Vgl. den Abschnitt über „Don Juan und die Armen Seelen“ in unserem Artikel über den Don Juan-Mythos.)
Andere Sagen berichten, dass es den Toten erlaubt ist, um Mitternacht, Schlag zwölf, ihre Gräber zu verlassen, um auf dem Friedhof zu tanzen bis die Turmuhr „eins“ schlägt. Dann müssen sie in den Sarg zurück, der Deckel schlägt zu, und der Spuk ist vorbei.
In Goethes bekannter Ballade „Totentanz“ beobachtet der Türmer das makabre Treiben der Skelette und raubt einem aus Übermut das Totentuch, ohne das es nicht ins Grab zurückkehren kann. Da schlägt die Turmuhr „eins“ und beendet die Geisterstunde. Das Skelett zerschellt, und der Türmer, der für seinen Frevel mit dem Tod bestraft werden sollte, ist gerettet. Dieses Gedicht wurde öfter vertont, illustriert, in Schulaufsätzen behandelt und fand sogar Eingang in mehrere Comic-Versionen.
Camille Saint-Saens’ sinfonische Dichtung „Danse macabre“ aus dem Jahre 1872 hat eben diese Sage zum Inhalt. Ursprünglich konzipiert als Lied mit Klavierbegleitung, erfuhr das Stück mehrere Bearbeitungen, z.T. vom Komponisten selbst für Violine und Klavier und für zwei Klaviere. Die Orchesterfassung entstand zwei Jahre später. Etliche Komponisten schufen eine Transkription für Orgel oder Klavier – wie z.B. Franz Liszt. Die niederländische Rock-Band „Ekseption“ bearbeitete das Werk für ihr Debütalbum!
Hier möchte ich eine ungewöhnliche Fassung für Cembalo vorstellen, arrangiert und meisterhaft gespielt vom Cembalo-Duo „A&A“ – Anna Kiskachi und Anastasia Antonova.
Liebe Leserinnen, liebe Leser, in dieser kurzen Skizze über das faszinierende Thema mussten viele Werke der Malerei und der Musik unerwähnt bleiben. Nach der Schreckensgestalt des Mittelalters wandelte sich das Bild des Todes in der Zeit der Aufklärung – der Tod wurde zum Freund, der nicht kommt um zu strafen, sondern zum sanften Schlaf in seinen Armen einlädt. (Vgl. Franz Schuberts Lied, „Der Tod und das Mädchen“!) Erst im 20. Jahrhundert, unter dem Eindruck der beiden Weltkriege, erhielt er wieder sein schreckliches Gesicht, wie die Arbeiten von Egger-Lienz, Lovis Corinth, Alfred Kubin und Alfred Hrdlickas „Plötzenseer Todestanz“ in Berlin zeigen.
Wenn Sie sich ausführlicher mit dem Thema beschäftigen möchten, empfehle ich die großartigen Publikationen der Österreichischen und der Europäischen Totentanz-Vereinigung.
Ein letztes Bild: Die wunderbaren Totentanz-Fresken an der Außenmauer des Karners von Hrastovlje in Slowenien.
Literaturverzeichnis
Distler, Hugo: Der Totentanz, 1934, Quelle: https://www.totentanz-online.de/medien/musik/hugodistler.php, zuletzt abgerufen am: 08.09.2023
Egger, Franz: Basler Totentanz, Basel, 2009