“Non vedo niente! Non vedo niente!”, schrie der kleine Giovanni und zerrte heftig an den Kleidern seines Onkels, schließlich wollte auch er die Abfahrt der Boote sehen! Man feierte das Festa della Sensa, Christi Himmelfahrt und gleichzeitig das Fest der Vermählung Venedigs mit dem Meer. Onkel Andrea hievte den dreijährigen Knirps auf seine Schultern. Nun war er größer als alle anderen Schaulustigen und mußte nicht mehr fürchten, im dichten Gedränge vor dem Dogenpalast zertreten zu werden. Er sah den riesigen Bucintoro, das zweistöckige Ruderschiff mit den unzähligen Ruderern in roten Anzügen und hörte die Kommandorufe des Anführers, die selbst das Jubelgeschrei der Menge und die Fanfaren übertönten. Den Dogen in seinen prächtigen Gewändern konnte er nicht erkennen, aber er schrie und winkte bis das Schiff nicht mehr zu sehen war, nur mehr die zahllosen Boote und Gondeln, die ihm folgten. Sie fuhren alle zum Lido, wo der Doge einen goldenen Ring ins Meer werfen würde, zum Zeichen der Hochzeit der Lagunenstadt mit dem Meer. Dann würde in der Kirche San Nicoló ein feierlicher Gottesdienst stattfinden, zum Gedenken an den Sieg über die dalmatinischen Piraten im Jahr 1000 und an den Frieden von Venedig im Jahr 1177, der den Streit zwischen Friedrich Barbarossa und Papst Alexander beendete.
Doch Andrea Gabrieli konnte daran nicht teilnehmen, er musste eilends zurück zum Dom von San Marco, wo er zweiter Organist war. Sie mussten noch proben für die Heilige Messe, die nach der Rückkehr der Schiffe stattfinden sollte. Er nahm den Kleinen auf den Arm und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Giovanni durfte bei der Probe zuhören!
Er war zutiefst beeindruckt! Von überallher ertönte Musik: Ein großer Chor und Posaunen von der linken Empore, ein kleinerer, begleitet von Streichinstrumenten von der rechten, und von ganz oben aus einer der Kuppeln erklang der „Chor der Engel“. Einmal sang der Chor mit den Posaunen und der kleinere Chor antwortete wie ein Echo, dann sangen sie wieder gemeinsam, und am Ende sangen die Engel aus der Kuppel ein vielstimmiges Halleluja. Es war wie im Himmel! – „Wenn ich groß bin, will ich auch so eine wunderbare Musik machen,“ flüsterte er seinem Onkel ins Ohr.
GIOVANNI GABRIELI (1554/1557 – 1612)
Giovannis Familie war arm, daher wurde er schon früh in die Obhut seines Onkels Andrea gegeben, der ein berühmter Komponist war und als zweiter Organist von San Marco eine gut bezahlte Stelle inne hatte. Bei ihm erhielt Giovanni seinen ersten musikalischen Unterricht. Später, als junger Mann, erhielt er ein Stipendium von den Fuggers, die ihr Handels- und Finanzimperium seit geraumer Zeit bis Venedig ausgedehnt hatten, um bei Orlando di Lasso in München zu studieren. Daraus entstand eine innige Freundschaft. Orlando hat Giovanni einige Male in Venedig besucht.
Zurück in Venedig erhielt er Onkel Andreas Stelle als zweiter Organist, da dieser inzwischen zum ersten Organisten avanciert war. Giovanni wurde zu einem der berühmtesten Komponisten Europas. Musiker aus aller Herren Länder pilgerten nach Venedig, um bei ihm zu studieren. Einer von ihnen war Heinrich Schütz, dessen mehrchörige Chorwerke, Motetten, Psalmenvertonungen und Geistliche Konzerte zum Schönsten und Erhabensten gehören, was die Musik des frühen Barock zu bieten hat. ( Alle, die in einem unserer Adventkonzerte das achtstimmige Deutsche Magnificat gesungen haben, werden das bestätigen! Es gehört zu meinen ergreifendsten Erinnerungen.)
Das antiphonare Beten und Singen wurde natürlich nicht in Venedig erfunden, sondern hat eine lange Tradition, die auf das Judentum zurückgeht. Wer einmal in einer Landkirche im Mai oder Oktober eine Rosenkranzandacht besucht hat, kennt das: die Männer links, die Frauen rechts wechseln einander immer wieder ab mit ihrem Singsang. Die meditative Stimmung, die dadurch entsteht läßt Herz und Seele zur Ruhe kommen.
Für einen Besucher im Markusdom von Venedig muss die mehrchörige Musik ein überwältigendes Erlebnis gewesen sein: eingehüllt von Gesängen und Klängen aus allen Richtungen hat in ihnen wohl ein überirdisches Gefühl des Getragenwerdens von Musik ausgelöst!
SAN MARCO
Die Musik, die im sechzehnten Jahrhundert in der „Venezianische Schule“ entwickelt wurde, breitete sich in ganz Europa aus. Ich frage mich oft, wie die Musiker – und auch andere Künstler, die den ganzen Kontinent durchquert haben um bei anderen in die Schule zu gehen – die Reisestrapazen jener Zeit ausgehalten haben: in unbequemen Kutschen auf schlechten Strassen von einer unsauberen Herberge zur nächsten, bis man endlich am Ziel ankam! Nicht jeder hatte das Glück, mit einem adeligen Empfehlungsschreiben in einem Schloss aufgenommen zu werden! Wieviel Idealismus und Liebe zur Kunst muss diese Künstler angetrieben haben!
Die Architektur der Basilika mit ihren Kuppeln, den mehreren einander gegenüberliegenden Emporen und den sog. Katzenstegen, die eigentlich für Reparaturarbeiten an den Wandmosaiken gebaut wurden, inspirierte wohl die Komponisten, mit an verschiedenen Stellen aufgestellten Ensembles zu experimentieren.
Ein weiterer Grund dürfte sein, dass sich das Weltbild in dieser Zeit grundlegend gewandelt hat. Der Horizont, das Erlebnis des Raumes – sowohl des geografischen wie des geistigen – ist weiter und tiefer geworden: die Entdeckung Amerikas, der Planetenbahnen und der Bewegung der Erde um die Sonne, die Perspektive in der Malerei, all das hat dazu beitragen, dass auch in der Musik das Bedürfnis entstanden ist, die faszinierenden Möglichkeiten des Raumes zu nützen.
So entstand eine beispiellose Musikkultur in Venedig: eine Musikschule, die durchaus mit einer heutigen Musikuniversität zu vergleichen ist.
Um 1550 besaß San Marco zwei Orgeln, 2-4 Organisten mit Lebensstellung, ein Orchester, 40 angestellte Sänger und mehrere „maestri di capella“.
Sie alle wurden fürstlich bezahlt: ein Maestro di capella verdiente 1100 Gulden, ein Organist 550 Gulden bei freier Wohnung1. Und sie alle hatten vor allem die Aufgabe, die Pracht der Kirche, des Dogen und Venedigs zur Schau zu stellen!
Was hier entstanden, ist sollte sich noch weit in die nächsten Jahrhunderte auswirken! Doch davon beim nächsten Mal!
1 1 Gulden=35g Gold
Literaturverzeichnis
Schlu, Martin, Die Basilica San Marco in Venedig, https://www.martinschlu.de/kulturgeschichte/renaissance/spaet/gabrieli/12basilikasanmarco.htm, letzter Zugriff: 23. März 2023