Man schrieb das Jahr sechzehndreizehn oder vierzehn. Unruhig ging Pater Gabriel Telléz im Klostergarten auf und ab. Es war noch früh am Morgen, vor der Matutin, dem Morgengebet der Mönche. Der Himmel war noch grau und Tautropfen glitzerten auf den Orangenbäumchen, aber die ersten Vögel stimmten bereits ihre Morgenlieder an.
Jedoch Pater Gabriel hatte es in seiner Kammer nicht mehr ausgehalten. Allzu aufgewühlt war er von den Ereignissen des vergangenen Abends.
In der Abenddämmerung im Beichtstuhl sitzend konnte er nicht sehen, wer auf der anderen Seite des Beichtgitters niederkniete, er vermeinte jedoch die Stimme des Don Juan Tenorio zu erkennen. Was er in der nächsten Viertelstunde zu hören bekam, überstieg allerdings seine schlimmsten Erwartungen. Er hatte schon vielen Sündern die Absolution erteilt, doch diesmal kamen ihm Zweifel.
„Bereut Ihr, was Ihr getan?“, fragte er am Ende des Sündenbekenntnisses in die Dunkelheit hinein. – Stille! – Er versuchte es noch einmal: „Wenn Ihr Vergebung wollt…“ Da merkte er, dass der Platz hinter dem Gitter leer war. Empört öffnete er die Tür des Beichtstuhls und schrie nochmals in den leeren Kirchenraum: „Bereut Ihr denn, was Ihr getan, Señor?“
„Nein!“ gellte es durch das Kirchenschiff und wieder: „Nein!“ Auf dem Steinboden verhallten eilige Schritte, dann fiel das Tor ins Schloss.
Aufgewühlt beschloss Pater Gabriel, alles was er gehört aufzuschreiben, um seine Seele zu entlasten. Doch stand es einem Gottesmann nicht wohl an, derartig schändliche Verbrechen und gotteslästerliche Taten zu beschreiben. Hatte er doch schon genügend Schwierigkeiten mit der Obrigkeit! So tat er es unter anderem Namen: Tirso de Molina.
So – oder so ähnlich könnte es gewesen sein…
Doch zunächst blieb das Manuskript in des Paters Schublade. Erst im Jahr 1630 erschien es im Druck: „El burlador de Sevilla o convidado de piedra“.
Vorbilder
Natürlich hat Tirso de Molina den Stoff nicht erfunden. Die Gräueltaten des Don Juan, dem skrupellosen Verführer, der selbst angesichts des Todes hohnlachend die Buße verweigert, war längst fester Bestandteil der fahrenden Schauspieltruppen und Puppenbühnen. Insbesondere führten die Jesuitendramen dem Publikum, das ja nicht lesen konnte, auf drastische Weise vor Augen, was mit einem Menschen geschieht, der sich über alle Gebote Gottes hinwegsetzt: die ewige Verdammnis ist ihm sicher. Das war anschaulicher als jede Predigt von der Kanzel herunter und rief bei den Zuschauern Schaudern und Angst hervor, um, so hoffte man, in ihnen den Willen zu Umkehr und einem gottgefälligen Leben zu wecken.
Nachbilder und Wandlungen
Don Juan – ein Archetyp. Seine Geschichte offenbart – wie jeder Mythos – die immerwährenden Verstrickungen des Menschen. Nie wird man damit fertig, also muss man sie immer wieder erzählen! Und das in zuweilen durchaus überraschenden, mitunter etwas abwegigen Varianten. Bis zum heutigen Tag machen sich Dichter, Philosophen, Musiker, Stückeschreiber und Filmemacher Gedanken über die Gestalt des Don Juan und grübeln über die seelischen Abgründe des Frevlers und Frauenhelden.
Da es mir zutiefst widerstrebt, Sie, liebe Leser und Leserinnen zu langweilen, präsentiere ich hier nur eine kleine, handverlesene Auswahl der schätzungsweise einhundert Varianten dieses Themas.
Molierés „Dom Juan“ (UA 1665 Paris) erscheint noch eine Spur verworfener als Tirso de Molinas, erfrecht er sich doch, Donna Elvira aus dem Kloster zu entführen, um sie dann sitzen zu lassen, sobald er von ihr genug hat!
In E. T. A. Hoffmanns Erzählung (1813) erkennt Don Juan, dass er die vollkommene Liebe nicht in erotischen Abenteuern finden kann und verzweifelt an dieser Erkenntnis. Obwohl Hoffmann ein glühender Bewunderer Mozarts war und den „Don Giovanni“ selbst dirigiert hat, scheint er hier ganz anderen Gedanken zu folgen, denn Mozarts Giovanni kennt weder Zweifel noch Verzweiflung! Sein Don Juan wird zum zwanghaften Zerstörer fremden Liebesglücks. Motto: Was mir nicht vergönnt ist, sollst du auch nicht haben!
In George Bernard Shaws Gesellschaftssatire „Man and Superman“ (1903) wird die Sache umgedreht: Jack Tanner (= Juan Tenorio!) ist der von den Frauen Verfolgte. Speziell eine gewisse Ann Whitefield umgarnt ihn mit ihrem Charme und möchte ihn zu ihrem Ehemann machen. Als Jack die Flucht ergreifen will, ist es allerdings schon zu spät! Er hat ohne es zu merken bereits Feuer gefangen. In amüsanten und zum Teil etwas schwer verständlichen Konversationen schmieden sie gemeinsam Weltverbesserungsideen, er als Sozialist, sie infiziert von emanzipatorischem Gedankengut. Doch alle guten Ideen scheinen irgendwie ins Leere zu laufen!
Richard Strauss komponiert 1888 – inspiriert von Nikolaus Lenaus Gedicht – seine Sinfonische Dichtung „Don Juan“.
Juans letzte Worte bei Lenau:
„Mein Todfeind ist in meine Faust gegeben;doch dies auch langweilt, wie das ganze Leben.“1
Lenau, Nikolaus, Nicolaus Lenau’s dichterischer Nachlaß, in: J. G. Cotta, Stuttgart und Augsburg 1858, S. 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Lenau_-_dichterischer_Nachlass,_1858.djvu/98&oldid= (Version vom 11.12.2022), zuletzt abgerufen am: 03.02.2023
Dann lässt er sich bereitwillig von Don Pedro, seinem Rächer, dessen Vater er ermordet hat, erstechen.
In der Musik von Strauss durchsticht ein dissonanter Trompetenton auf F das düstere a-Moll des Orchesters, mit dem der Frauenheld, angewidert vom Leben und begleitet von einem sanften Triller der Streicher seine Seele aushaucht.
Ödön von Horvath zeichnet in seinem Drama „Don Juan kommt aus dem Krieg“ (1935) einen gebrochenen Mann, der auf dem Schlachtfeld zur schmerzlichen Erkenntnis gelangt ist, dass er sein Leben versäumt hat: Anna wäre seine große Liebe gewesen! In seiner Sehnsucht nach Freiheit und Ungebundenheit hat er seine wahren Gefühle unterdrückt. Heimgekehrt irrt er nun wie im Traum durch die Stadt, auf der Suche nach ihr, und glaubt, in jeder Frau, die ihm begegnet, Anna zu erkennen. Alles erscheint unwirklich, die Figuren schemenhaft, wie im Nebel. Es ist spät im Herbst, doch schon winterlich kalt. Es beginnt zu schneien. Im Schneetreiben wandert er über einen Friedhof und befindet sich plötzlich vor einem Grabmal – nicht des Komturs, sondern Annas, der zu spät Geliebten. Erstarrt setzt er sich auf einen Stein. Unaufhörlich fällt der Schnee.
„Sie werden sich noch den Tod holen!“, warnt eine Stimme hinter ihm.
Er rührt sich nicht von der Stelle. Leise vermeint er Anna lachen zu hören. So endet er – nicht im Feuer der Hölle – sondern erstarrt in Eis und Schnee.
In Max Frischs köstlicher Komödie „Don Juan oder die Liebe zur Geometrie“ (1953), die meines Erachtens viel zu selten gespielt wird, sucht unser Held die Befriedigung, die ihm die Frauen nicht geben können, in der Schönheit der Mathematik. Er hat es satt, den Weiberhelden spielen zu müssen! Um sich von seiner Legende zu befreien, zieht er sich zurück nach Andalusien und heiratet Miranda, die Herzogin von Ronda, eine ehemalige Hure. Ronda, die malerischste Gegend in Südspanien! Aber er hat nichts davon. Er lebt gewissermaßen im Exil in Mirandas Schloss, das er nicht verlassen darf, nachdem er die Kunde von seiner Höllenfahrt erfolgreich als fake news hat verbreiten lassen, um sich endlich ungestört seiner Leidenschaft, der Geometrie hingeben zu können!
In der letzten Szene gesteht Miranda ihm, dass sie ein Kind von ihm erwartet. Nunmehr in die Rolle eines Familienvaters gedrängt, scheint seine Rolle als unersättlicher Frauenverführer endgültig überwunden.
Max Frischs Stück ist eine höchst amüsante Parodie auf die uralte Erzählung von Don Juan. Sie wird jedoch der Faszination des ursprünglichen Mythos und dessen Wirkung auf das Publikum mit seiner kribbelnden Mischung aus Grusel, Abscheu und Bewunderung keinen Abbruch tun. Trotz Hölle, Tod und Teufel – Don Juan ist, so vermute ich, nicht umzubringen!
Doch nun zum nächsten und allerwichtigsten Kapitel: Mozarts „Don Giovanni“!
Wolfgang Amadeus Mozart: „Don Giovanni“
Libretto: Lorenzo da Ponte
UA 1787 in Prag
E.T.A. Hoffmann nannte sie „die Oper aller Opern“. Je mehr ich mich mit Mozarts „Dramma giocosa“ beschäftige, desto größer wird meine Bewunderung und Begeisterung – auch für Da Pontes Text! Deshalb erlauben Sie mir, liebe Leser und Leserinnen, Einiges, das wenig bekannt oder sogar unbekannt ist und auch ein paar persönliche Gedanken zu Papier zu bringen – pardon: ins Netz zu stellen! (Fast hätte ich vergessen, dass wir uns hier in einem modernen Medium befinden!)
Nicht mehr als acht Personen kommen in dem Stück vor – abgesehen von den Bauernmädchen und Bauernburschen, die zur Hochzeit von Zerline und Masetto geladen sind -, doch die Spannungen und Verstrickungen, die Konflikte und widersprüchlichen Gefühle, die sie umtreiben sind mannigfach. In derart komplexen Situationen der Orientierungslosigkeit empfiehlt sich nach heutigen psychologischen Erkenntnissen eine sogenannte „Familienaufstellung“.
Absurd – sagen Sie? Versuchen wir’s! Es kann nicht schaden!
Leporello, sein Diener, hin und her gerissen zwischen Abscheu und Bewunderung, wäre gern ein Draufgänger wie sein Herr, traut sich aber nicht. Andererseits will er ihn immer wieder verlassen, wenn es ihm zu bunt wird. Das traut er sich aber auch nicht. Außerdem braucht er das Geld. Er ist gewissermaßen Don Giovannis Alter Ego.
Don Giovanni ist der absolute Mittelpunkt. Alles ist auf ihn bezogen.
Donna Anna, in deren Gemach Giovanni verkleidet eingedrungen ist, in der Absicht, sie gefügig zu machen (was wirklich in dieser Nacht geschehen ist, verschweigt die Geschichte!), fühlt sich gedemütigt und beschämt. Das Entsetzen über den Mord an ihrem Vater, dem Komtur, erfüllt sie mit Rachegedanken und Wut und lähmt ihre Gefühle für Ottavio (so sie je welche hatte), ihren Verlobten.
Don Ottavio leidet und duldet. In Annas Herzen, das so zerrissen und aufgewühlt ist, hat er zur Zeit keinen Platz. Immer wieder verschiebt sie die Hochzeit!
Donna Elvira, die Giovanni verlassen hat, ist zur Furie geworden – und liebt ihn dennoch weiterhin, zuletzt besessen von der Idee, ihn vor der Verdammung retten zu müssen.
Zerline, das hübsche und naive Bauernmädchen, ist geschmeichelt und verwirrt von des Edelmanns Avancen, betört von der Aussicht, vielleicht Gräfin zu werden – in letzter Minute, noch schnell vor der Hochzeit mit Masetto. Sie spielt mit beiden, und zahlt beinahe drauf!
Masetto beobachtet argwöhnisch, wie der Edelmann sich an seine Zerline heranmacht, durchschaut das Spiel und platzt beinahe vor Eifersucht und Zorn.
Der Komtur, Annas Vater, der durch den Degen Giovannis zu Tode gekommen ist, als er Anna zu Hilfe eilen wollte, erscheint als Rächer aus dem Jenseits, der den Frevler in die Hölle befördert.
In einer richtigen, therapeutischen „Aufstellung“ würde nun ein Außenstehender versuchen, die Protagonisten in andere Positionen zu schieben, um einer Lösung der Konflikte näher zu kommen. Doch davon würde ich zum jetzigen Zeitpunkt abraten; die Oper wäre dann wohl vorzeitig zu Ende! (Außerdem, das sei jetzt schon vorweg genommen, finden alle Beteiligten in der „scena ultima“, der allerletzten Szene, die Lösung von selber).
Don Giovannis Fest
Erster Akt Finale
Am Ende des ersten Aktes lädt Don Giovanni zu einem großen Fest. Alle, Edelleute, Bürger und Bauern sind eingeladen, selbst drei Personen, die sich in Masken dem Schloss nähern, werden hinein gebeten und großzügig bewirtet. In der mitreißenden Champagnerarie ermuntert er alle, sich bestens zu unterhalten und preist die Freiheit: Viva la liberta! Drei Orchester spielen zum Tanz auf! Was nun kommt, ist eine der genialsten Szenen der Operngeschichte!
Verehrter Leser, verehrte Leserin, sind Sie schon einmal auf einem Ball gewesen und, auf der Suche nach dem Buffet oder einem bestimmten Örtchen die Gänge entlanggeeilt, wo aus den verschiedenen Sälen ganz verschiedene Tanzmusik an Ihr Ohr drang: Aus dem ersten ein Boogie, aus dem zweiten ein Tango und aus dem dritten ein Walzer – alles durcheinander?
Genau das hat Mozart komponiert! Nur natürlich die Modetänze seiner Zeit:
Orchester 1 spielt ein Menuett in einem langsamen 3er-Takt, Orchester 2 einen Kontratanz im 4er-Takt und Orchester 3 einen Deutschen Tanz im Walzertakt!
Das folgende Notenbeispiel soll das veranschaulichen:
Leider hört man immer nur das berühmte Menuett, mit dem der Ball beginnt, aber wenn Sie einmal ganz genau hinhören, werden Sie auch den Kontratanz erkennen, der etwas später einsetzt und dann den beschwingten Walzer! In den meisten Inszenierungen werden diese drei Tänze vernachlässigt, weil die wenigsten Regisseure mit den Choreographien dieser historischen Tänze vertraut sind.
Dadurch geht jedoch ein sehr wichtiger Aspekt dieser Szene verloren: jeder Tanz ist auch ein Standessymbol: das Menuett ist der Tanz des Adels, der Kontratanz, der eigentlich aus England kommt, ein bürgerlicher Tanz und der Walzer oder Ländler der Tanz des Volks. Alle kommen hier zusammen, ganz gegen die Hofordnung! Ein Symbol der Aufklärung. Viva la liberta! Auch wenn Don Giovanni vielleicht vor allem seine eigene Freiheit meint!
Mitten hinein in das ausgelassene Tanzvergnügen ertönt Zerlines gellender Hilfeschrei: Don Giovanni will ihr Gewalt antun…
Don Juan und die armen Seelen (Vgl. Petzold, Leander, 1987: 137)
Ich habe mich immer gewundert darüber, wie die Erzählung von einem Toten, der schaurigerweise zu einem Abendessen eingeladen wird, in die Geschichte von Don Juan geraten ist! Friedhofsfrevel und Frauenheld – zwei ganz verschiedene Motive! Was ich gefunden habe ist erstaunlich!
Ursprünglich war es keineswegs ein Frevel, den Verstorbenen Essen auf den Friedhof zu bringen, sondern ein Zeichen der Ehrerbietung und des Gedenkens.
In vielen Weltgegenden ist es heute noch der Brauch, den Verstorbenen an ihrem Sterbetag Speisen aufs Grab zu stellen. Bei manchen indigenen Völkern in Lateinamerika ist es üblich, den Ahnen zu bestimmten Zeiten ihre Lieblingsspeisen auf den Hausaltar zu stellen, ihrer zu gedenken und mit ihnen zu feiern.
Eine Bekannte erzählte mir, dass in Serbien die Familien zu Ostern, am Fest der Auferstehung, die Gräber ihrer Angehörigen besuchen, Speisen und Getränke mitnehmen und auf dem Friedhof essen, trinken und fröhlich tanzen!
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel berichtet ein protestantischer Prediger im Jahr 1649 aus Lettland:
„Wenn sie ihre Toten begraben, haben sie derselben Seelen jährlich zu gewisser Zeit, nemblich im Herbst, ein Convivium oder Gastgebot gehalten, da denn allerley Speise zugerichtet, dieselben in einer Stuben, die dazu bereitet, fein ausgehitzt und wohl gekehret war, auf die Erde hingesetzt, da denn der Hauswirt selbst auf den späten Abend hineingehen, dass Feuer halten und die Verstorbenen, nemblich seine Eltern, Verwandten, Kinder und andere Angehörigen bey Namen rufen müssen, dass sie kommen, essen und trinken möchten.“[…]
Petzold, Leander, 1987: 142
Auch in unseren Breiten waren solche Bräuche durchaus verbreitet:
„Es sind vill, bey 150 schüsseln von Holz unterschiedlicher farbe im todtenhäusel gefunden worden, in welchen man vor Zeiten abends denselbigen allerley speise fürgesetzt hat“.
Petzoldt, Leander, 1987: 142
In der Steiermark gab es noch bis ins 19. Jahrhundert den Brauch der „Seelengastung“. Hier kochten die Angehörigen am Allerseelentag Speisen für ihre Toten und stellten einen Topf mit Essen auf das Grab, den „Seelennapf“ mit dem „Seelenbrei“, der anderntags an die Armen des Dorfes verteilt wurde.Die Zeit vom 30. Oktober bis zum 8. November galt als „Seelenwoche“, in der die Armen Seelen aus dem Fegefeuer an den Ort zurückkehren dürfen, an dem sie früher lebten……In abgelegenen Gebirgsdörfern ziehen sogar heute noch Kinder am Allerseelentag umher, sagen Verse auf und bitten bei den Bauern um einen Seelenbrezel, das Totenbrot oder den Seelenstriezel. (Vgl. Petzold, Leander, 1987: 142f.)
In der Wildschönau in Tirol bekommt man zu Allerseelen beim Bäcker Hennen und Hähne aus Germteig zu kaufen, Gebildbrote, die ursprünglich wahrscheinlich heidnische Opfergaben an die Toten waren um sie zu versöhnen, denn die zurückkehrenden Toten konnten auch gefährlich werden. In Irland stellt man ein Schälchen mit Milch ins Fenster, und aus Amerika kennen wir Halloween, ein Brauch, der in letzter Zeit auch hierzulande immer beliebter wird: Am Allerseelentag ziehen als Gespenster verkleidete Kinder durch die Gassen und betteln um “Süßes“. Wer nicht willig ist zu geben, erhält „Saures“ – die Rache der Toten ist ihnen gewiss!
Volkssagen
In zahlreichen Sagen wird Folgendes erzählt: Ein betrunkenes Bäuerlein ging nachts über einen Friedhof, verfluchte Gott und alle Heiligen und stolperte über einen Totenkopf. „Ei“, sprach er „du hast ja noch ganz brauchbare Zähne in deinem Maul! Komm doch heute Abend in mein Haus, meine Frau macht die besten Knödel im Land! Zu seiner Überraschung antwortet der Totenschädel: Ja!
Nachdem sie zusammen gegessen hatten, lädt der tote Gast den Bauern ein, mit ihm zu kommen. Er muss mit ihm ins Grab! – In manchen Sagen kehrt er nach hundert Jahren wieder in sein Dorf zurück – in eine veränderte, fremde Welt.
Im 18. Jh galt Don Juan als „Geisterstück“. Es wurde vorzugsweise zu Allerseelen aufgeführt. Don Giovanni wurde nachweislich in rund zwanzig Jahren einundachtzigmal aufgeführt! Das Totenmotiv wog offenbar schwerer als das des Frauenverführers.
Don Giovannis Ende
Finale
Nachdem Don Giovanni vor der Rache der drei maskierten Gäste geflüchtet ist, trifft er nach einigen weiteren Verführungsversuchen auf einem Friedhof den ebenfalls von Elvira, Anna und Ottavio verfolgten Leporello. Giovanni rühmt sich seiner Verführungskünste, als plötzlich die Stimme des toten Komturs ertönt. Er zwingt den zu Tode erschrockenen Leporello, das steinerne Denkmal zum Abendessen einzuladen.
Pünktlich erscheint der „Steinerne Gast“ beim feudalen Dîner des Edelmannes, der sich an gebratenem Fasan und exzellentem Wein gütlich tut, begleitet von Tafelmusik, die Gassenhauer aus Mozart-Opern spielt, „die er schon nicht mehr hören kann“. Mozart zitiert sich hier selbst in gekonnter Selbstironie!
Eine köstliche Szene, in der einer den anderen zu täuschen versucht: Leporello nagt heimlich an einer Fasankeule, die er stibitzt hat, und Giovanni gibt vor, es nicht zu bemerken.
Plötzlich erscheint Elvira, um Giovanni in letzter Minute vor dem Verderben zu retten. Schon ertönen auf dem Flur die polternden Schritte des Steinernen Gastes, der der frevelhaften Einladung gefolgt ist. Während Leporello fassungslos seinen Herrn beschwört, seine Sünden zu bereuen, bleibt dieser bis zur letzten Sekunde sich selbst treu. Auf des Komturs wiederholte Aufforderung: „Pentite!“ (it. “Bereue!”), antwortet er mit gellender Stimme dreimal: No – no – no! Begleitet von schaurigen c – Moll – Kaskaden des Orchesters, zieht ihn der Steinerne Gast in den Höllenschlund.
La scena ultima
Immer wieder wird darüber diskutiert, ob man die allerletzte Szene weg lassen soll, da sie nach der Vorstellung der Höllenfahrt allzu versöhnlich wirkt. Auch im 18. Jh. wurde sie des Öfteren gestrichen, wodurch dem Publikum der Schrecken der Verdammnis als letzter Eindruck wohl gewaltige Schauder über den Rücken gejagt haben muss, und sie so zur Abkehr von einem zügellosen Leben bewogen hat – gemäß der ursprünglichen Absicht der Erzählung. Dennoch, meine ich, war es vermutlich Da Pontes und Mozarts Absicht, den Schrecken aufzulösen, und die Handlung wieder auf eine realistische Ebene zu heben. Die anderen handelnden Personen, die bisher vollkommen auf Don Giovanni fixiert waren, sollen wieder ins eigene Leben zurückgeführt werden. Durch seinen Tod sind auch sie in ein tiefes Loch gefallen, aus dem sie nun wieder herausfinden müssen.
Donna Anna braucht eine Auszeit, was Don Ottavio ratlos und enttäuscht zurücklässt, aber die Hoffnung auf ein späteres Glück aufrecht hält. Donna Elvira geht ins Kloster, um Ruhe zu finden und mit dem erlittenen Leid fertig zu werden.
Zerline und Masetto können nun unbeschwert Hochzeit halten und auf ein glückliches Leben hoffen, und Leporello, mit einem weinenden und einem lachenden Auge, geht ins Wirtshaus, um einen neuen Herrn zu suchen.
So haben sie nach all den Verirrungen und Verwirrungen, nach all den Zweifeln und Enttäuschungen, Wege gefunden, wie sie ohne Don Giovanni weiterleben können. Da sie einander wahrscheinlich nie wieder begegnen werden, so ist zu hoffen, wird auch der Schatten des burlador, der sie vermutlich noch eine Zeitlang begleiten wird, sich eines Tages auflösen…
Zum Schluss:
Liebe Leser und Leserinnen, ich nehme an, Sie haben die „Oper aller Opern“ schon unzählige Male gesehen. Sollte das nicht der Fall sein, holen Sie das bitte so schnell wie möglich nach – auch wenn Ihnen manche allzu moderne Inszenierungen möglicherweise nicht gefallen werden. Mozarts und Da Pontes „Drama giocosa“ ist eines der größten Werke der abendländischen Musikkultur! Ich wünsche Ihnen viel Freude daran!
Literaturverzeichnis
Petzoldt, Leander, Don Juan und die armen Seelen, in: „Wege zu Mozart. Don Giovanni-Symposion von der Karajan Stiftung”, 1987, Wien